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Fachkräftemangel im Rettungsdienst: Wie ernst ist die Situation wirklich?

09.09.2019, 15:10 Uhr

Unterwegs zum Patienten – kann der Rettungsdienst auch zukünftig alle Fahrzeuge mit fachlich gut ausgebildetem Personal besetzen? Foto: S. Drolshagen

Ein aktueller Artikel aus RETTUNGSDIENST 9/2019


Der Fachkräftemangel im Rettungsdienst ist in aller Munde – als bedrohliches Szenario baut er sich auf. Das System Rettungsdienst scheint insgesamt in Gefahr zu sein. Doch woran wird dies festgemacht? Häufig wird geschildert, wie stark sich die Bewerberlage geändert hat: Früher lagen hohe Stapel auf den Tischen der Verantwortlichen, heute sind es nur wenige Bewerbungen, wenn überhaupt. Immer wieder werden Fälle öffentlich, in denen Mitarbeiter mit teils unlauteren Methoden oder enormen Zuschlägen von der Konkurrenz abgeworben wurden.

Ausgangspunkt

Sucht man nach Studien zu diesem Thema, so befassen sich diese meist mit Gesundheitsberufen allgemein. Hinter der PricewaterhouseCoopers-Studie mit dem Namen „112 und niemand hilft“ kann auf den ersten Blick vermutet werden, dass es hier primär um den Rettungsdienst geht. Jedoch sind dessen Berufsbilder in die Gruppe „Helfer in der Krankenpflege“ eingruppiert. Aussagen zum Fachkräftemangel im Rettungsdienst können hier nicht gefunden werden.

Im Juni 2019 wurde die letzte Fachkräfteengpass­analyse der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht. Diese Publikation führt regelmäßig dazu, dass vonseiten von Fachverbänden und Politik Alarm geschlagen wird. Sie gilt als einer der wichtigsten Gradmesser für dieses Phänomen. Aber auch in dieser Fachkräfte­engpassanalyse werden Qualifikationen des Rettungsdienstes unter der Ziffer 813 in Kombination mit Gesundheits- und Krankenpflege sowie Geburtshilfe betrachtet. Auch hier sind keine expliziten Aussagen zum Rettungsdienst möglich.

Grund genug, die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ausschließlich in Bezug auf den Rettungsdienst zu analysieren. Denn diese Zahlen liegen vor. Zunächst muss jedoch die Methode der Engpass­analyse vorgestellt werden, um die Kennwerte interpretieren zu können.

Fachkräfteengpassanalyse

Die Fachliteratur zu Arbeitsmarktanalysen versucht zunächst, einen anderen Blick auf das oben beschriebene Phänomen zu entwickeln: Daher wird von Fachkräfteengpass anstelle von Fachkräftemangel gesprochen. Dies geschieht aus zwei Gründen: Zum einen ist der Begriff des Engpasses neutraler als der des Mangels. Zum anderen betont der erste Begriff deutlicher, dass es sich um einen zeitweiligen Zustand handelt, der sich auch wieder ändern kann.

Das in Abbildung 2 dargestellte Modell beschreibt den Stellenbesetzungsprozess, wie er in der Arbeits­agentur vollzogen wird. Zu Beginn steht die Meldung der offenen Stelle. Das beinhaltet auch die Festlegung des Termins, zu dem die Stelle besetzt werden soll (Besetzungstermin). Schließlich wird als Drittes der Zeitpunkt betrachtet, zu dem die Stelle abgemeldet (also besetzt) wird. 

Von besonderer Bedeutung sind dabei zwei Zeitspannen: zunächst die vollständige Laufzeit von der Meldung bis zur Abmeldung der Stelle. Für den Fachkräfteengpass entscheidend ist jedoch die Vakanzzeit, die Zeit also zwischen dem Punkt, zu dem eine Stelle besetzt sein sollte, und dem Punkt, zum dem die Stelle tatsächlich besetzt wurde. Ist dieser Abstand groß, so gab es offensichtlich keine oder nur wenige passende Bewerbungen.

Die Gründe können vielfältig sein: Unter Umständen ist der Arbeitsplatz nicht ausreichend attraktiv, z.B. hinsichtlich Arbeitszeiten, Gehalt oder Entwicklungsmöglichkeiten. Ein weiterer Grund kann darin bestehen, dass einfach nicht ausreichend viele Bewerber existieren. Kommt letzteres systematisch vor, spricht man von einem Fachkräfteengpass. Allerdings nur dann, wenn die Vakanzzeit deutlich länger dauert als gewöhnlich.

Die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA)

In den Statistiken der BA existieren Zahlen, die nur die Rettungsdienstmitarbeiter betrachten: Unter die Kennziffer 8134 fallen ausschließlich die Qualifikationen des Rettungsdienstes. Für das Anforderungs­profil 2 (Fachkraft) gab es zwischen Mai 2018 und April 2019 über das Jahr gesehen einen durchschnittlichen Bestand von 891 Stellen(angeboten) bei einem durchschnittlichen Bestand an Arbeitslosen von 907.
Betrachtet man diese Zahlen, so kommt auf jeden Arbeitslosen nahezu eine Stelle. Der Arbeitsagentur werden nicht alle offenen Stellen, jedoch nahezu alle Arbeitslosen gemeldet. Aufgrund ihrer eigenen Studien geht die BA davon aus, dass ca. 50% der Stellen bei ihr gemeldet werden. Unter Berücksichtigung dieser Vorzeichen sieht die Situation folgendermaßen aus: Auf jeden, der sich für eine Qualifikation im Rettungsdienst arbeitslos gemeldet hatte, kamen zwei freie Stellen. Es überwiegen die freien Stellen gegenüber den Arbeitslosen mit einem Verhältnis von 2:1 (Exkurs: In anderen Gesundheitsberufen sieht es jedoch noch wesentlich schlimmer aus: Angepasst an die mutmaßlich realen Bedingungen nach demselben Verfahren wie oben – und für den Vorjahreszeitraum – kamen auf 100 freie Stellen nur rund 28 Gesundheits- und Krankenpflegekräfte – Verhältnis ca. 4:1 – bzw. 14 Altenpflegekräfte – Verhältnis ca. 7:1).

 

Auch wenn dies nicht die klassische Meinung der Fachliteratur widerspiegelt, kann hier zumindest ansatzweise eine Vorstellung des Fachkräfteengpasses präsentiert werden. Denn in der oben beschriebenen Vakanzzeit zeigt dieser sich nach den klassischen Definitionen nicht: Erst bei einer Überschreitung des Bundesdurchschnitts um 40% oder mehr wird von Fachkräfteengpass gesprochen. Dies liegt für den Rettungsdienst nicht vor.

Die Vakanzzeit lag im Bundesdurchschnitt von Mai 2018 bis April 2019 bei 118 Tagen, die des Rettungsdienstes bei 150 Tagen. Dies entspricht einer Überschreitung von 26,5% und damit keinem Fachkräfteengpass. Auch für vergangene Jahre lässt sich dies entsprechend der Expertendefinition nicht nachweisen: Von Mai 2017 bis April 2018 lag die Überschreitung bei 11,6%. Von Mai 2016 bis April 2017 ist die Überschreitung mit 28,9% zwar deutlich höher (und nicht mehr weit von den 40% entfernt), für den Zeitraum davor (Mai 2015 bis April 2016) unterschreitet dieses Berufsfeld den Bundesdurchschnitt sogar mit -2,3%.

Einführung des Notfallsanitäters als struktureller Unterschied

Auf Basis dieser Zahlen kann nicht von einem Fachkräfteengpass im Rettungsdienst gesprochen werden. Doch woran liegt diese Diskrepanz zwischen den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit und dem Diskurs in der Fachwelt? Gibt es strukturelle Unterschiede im Rettungsdienst, die eine andere Sichtweise erfordern?

Ein wesentlicher Unterschied ist sicherlich die Einführung eines neuen Berufsbildes der Notfallsanitäterin bzw. des Notfallsanitäters. Hierin besteht die größte Herausforderung, weil sich bestimmte Zeitfenster schließen. Berechnungen für verschiedene Bundesländer zeigen, dass in einem Fall der Bedarf von Notfallsanitätern bis 2020 nur zu 54% gedeckt ist (5). Für ein anderes Bundesland zeigten die Untersuchungen, dass bei der Fortsetzung der Notfallsanitäterausbildung in der begonnenen Form bis 2024 rund 120% der Rettungsassistenten die Ergänzungsprüfung machen müssten, um den Bedarf zu decken, was aus mehreren Gründen nicht möglich ist (2). An diesen Stellen werden sich große Herausforderungen ergeben.

Warum sollte die Vakanzzeitüberschreitung für alle Berufe gelten,
nur nicht für den Rettungsdienst? Das ist wenig sinnvoll.

Explorative Studie

Ganz eigene Kennzahlen für den Rettungsdienst zu entwickeln ist schwierig: Warum sollte die Vakanzzeitüberschreitung für alle Berufe gelten, nur nicht für den Rettungsdienst? Das ist wenig sinnvoll. Letztlich lassen sich spezifische Aussagen für die Situation im Rettungsdienst jedoch am besten mit eigenen Panel-Untersuchungen treffen, also wiederholte Befragungen von ausgewählten Einrichtungen zu bestimmten Kennwerten und Einschätzungen. Eine explorative Studie dazu wurde bereits an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften durchgeführt. Dazu wurden 13 zufällig ausgewählte Leistungserbringer über das Bundesgebiet verteilt befragt.

Auf die Frage: „Als wie schwierig würden Sie es aktuell jeweils bezeichnen, Personen der folgenden Berufsbilder für die Rettungsmittel (nur für Primärversorgung bzw. Primärtransport) Ihrer Organisation oder Ihres Unternehmens zu finden?“ lag die Antwort auf einer Skala von 1 (= extrem schwierig) bis 7 (= extrem leicht) im Durchschnitt für Rettungs­sanitäter bei 2,83, für Rettungsassistenten bei 2,44 und für Notfallsanitäter bei 2,64. Diese Ergebnisse legen nahe, dass ein gewisser Fachkräfteengpass exis­tiert. Die Besetzung von Stellen erscheint den Leis­tungserbringern schwierig bis sehr schwierig.

Auf die Frage: Wenn Sie an die Besetzung Ihrer Rettungsmittel (nur für Primärversorgung bzw. -transport) gemäß den Vorgaben Ihres Landesrettungsdienstgesetzes denken: Als wie schwierig würden Sie dann aktuell die Besetzung dieser Rettungsmittel bezeichnen? lag die Antwort auf derselben Skala durchschnittlich bei 3,69. Es handelt sich hier entsprechend weder um ein besonders schwieriges noch ein besonders leichtes Unterfangen (mit einer leichten Tendenz zu „schwierig“). Die Konsequenzen aus der schwierigen Rekrutierungssituation sind also nicht dramatisch.

Fazit

Während die Daten der Bundesagentur für Arbeit im Verhältnis von freien Stellen zu Arbeitssuchenden viele unbesetzte Stellen offenbaren, zeigte die Vakanzzeit trotz einer deutlichen Abweichung vom Bundesdurchschnitt keinen Fachkräfteengpass im Sinne der Arbeitsmarktwissenschaften. Die explorative Kurzbefragung offenbart deutliche Probleme bei der Stellenbesetzung, die Auswirkungen auf die Besetzung von Rettungsmitteln sind jedoch nicht extrem. Die einzig folgerichtige Schlussfolgerung ist die konsequente und breit angelegte Fortsetzung eigener Datenerhebungen über Arbeitsmarktkennwerte des Rettungsdienstes.

Der Autor

Henning G. Goersch
leitet den Studiengang „Management in der Gefahrenabwehr B.Sc.“ an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften. Er lehrt und forscht zu den Themen Rettungsdienst, Bevölkerungsschutz, Katastrophenmanagement und Notfallvorsorge.

Literatur:

Stumpf + Kossendey Verlag, 2024
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