Sonntagsschicht, 6.13 Uhr, Funkmelderalarm: „Seniorenstift Sonnenblick, 91 J., leblos bei Weckrunde aufgefunden, Tele-Rea.“ „Klassische Leichenschändung – reanimieren bis der Arzt kommt“, sagt der Transportführer. Das Horn an und los. Das allzu vertraute Bild bietet sich: hager, eingefallene Wangen, Krebs im Endstadium als Blickdiagnose. Zweifel und Frust sind im Rettungsdienst nach solchen Einsätzen keine Seltenheit. Dieser Artikel zeigt beispielhaft aktuelle Probleme hinsichtlich Reanimationsmaßnahmen, Patientenwunsch und aktueller gesetzlicher Entwicklungen auf. Es stellt sich die Frage, ob „immer reanimieren“ noch zeitgemäß ist.
Innerhalb einer Woche kam es an der Schnittstelle Rettungsdienst-Palliativnetz zu folgenden zwei Einsätzen.
Kasuistik 1
Eine 78-jährige, extrem adipöse, multimorbide Krebspatientin wird morgens in ihrem Pflegebett leblos aufgefunden. Die bisherigen Diagnosen mehrerer vorliegender Klinikentlassungsbriefe lauten wie folgt:
- Urothel-CA-Harnblase
- Z.n. Subduralhämatom
- Pickwicksyndrom mit NIV-Beatmung, 165 cm, 185 kg
- globale dekompensierte Herzinsuffizienz
- sauerstoffpflichtige COPD
- Z.n. Stevens-Johnson-Syndrom
- Niereninsuffizienz III
- chronisches Schmerzsyndrom bei Spinalkanalstenose.
Der überforderte Ehemann ruft die Tochter, nachdem er seine Frau leblos im Bett aufgefunden hat. Diese alarmiert den Rettungsdienst. Als die Notfallsanitäter eintreffen, liegt die unterschriebene Patientenverfügung vor. Auch die letzten Krankenhausentlassungsbriefe und die rote Mappe des Palliativnetzes Bochum als Zeichen bereits laufender Palliativversorgung befinden sich auf dem Beistelltisch. Die Tochter berichtet, die Mutter lehne Apparatemedizin ab und wünsche keine lebensverlängernden Maßnahmen. Eine ihr kürzlich angeratene Herzkatheteruntersuchung wie auch eine Heimbeatmung verweigere sie.
Das RTW-Team beginnt trotzdem mit der Wiederbelebung. Als später die Notärztin eintrifft, beendet sie die Rettungsbemühungen, da bereits sichtbare Totenflecken vorliegen. Die Notärztin weigert sich, eine natürliche Todesart zu bescheinigen, obwohl die vorliegenden letzten Klinikentlassungsbriefe mindestens sechs Erkrankungen aufführen, die eine natürliche Todesursache nahelegen. Sie verlässt ohne Erstellung eines Leichenschauscheins – bei fehlendem Anschlusseinsatz – die Einsatzstelle und informiert den Bereitschaftsdienst des Palliativnetzes. Der dortige Arzt könne ja eine natürliche Todesart feststellen. Sie würde das nicht dürfen und ansonsten nun die Polizei rufen müssen. So wird der Leichnam mit entblößtem Oberkörper sowie aufgeklebten Elektroden zurückgelassen. Im Gesicht befindet sich noch Erbrochenes.
Eine Stunde später bescheinigt der diensthabende Palliativarzt den natürlichen Tod und erläutert, dass die Ehefrau und Mutter bereits nachts verstorben und aufgrund fehlender Leidenszeichen (z.B. Erstickungseinblutungen) auch höchstwahrscheinlich „friedvoll im Schlaf hinübergegangen“ sei. Es besteht viel Redebedarf, offene Fragen werden beantwortet, da die Situation als traumatisch empfunden wird.
Beim Auffinden eines leblosen Menschen sehen aktuelle Stellungnahmen eine unmittelbare Verpflichtung zur Durchführung von Reanimationsmaßnahmen vor – insbesondere von Rettungsdienstmitarbeitern.
Kasuistik 2
Der Zustand eines 87-jährigen Pflegeheimpatienten mit metastasiertem Nierenkarzinom im Endstadium verschlechterte sich die letzten Tage erheblich. Essen und Trinken waren nicht mehr möglich, und die Dosis des Fentanylpflasters zur Schmerztherapie wurde gesteigert. Der Patient war gut symptomkontrolliert. Nachdem er im Pflegestuhl in das Badezimmer gebracht wurde, fand man ihn dort kurze Zeit später leblos vor. Obwohl seit geraumer Zeit eine Betreuung durch das Palliativnetz erfolgte und dort auch eine 24/7-Rufbereitschaft vorhanden ist, rief eine Schwester überfordert die 112 und schildert die Situation. Noch am Telefon werden ihr im Rahmen der Telefonrettung Maßnahmen der Reanimation erläutert: „Patienten auf den Rücken legen, 100-mal kräftig auf die Mitte des Brustkorbes drücken, Hilfe kommt.“
Die Bezugspflegekraft – eine Ordensschwester – weiß um den Willen des Patienten. Es liegt eine Notfallpatientenverfügung vor, in der es heißt: „Gewünschte Behandlung bei Lebensgefahr: nur lindernde Maßnahmen (z.B. ausreichende Schmerztherapie, Linderung anderer Symptome wie beruhigende Therapie bei Atemnot, kein Notarztruf, keine Klinikeinweisung).“ Zudem ist in dem Bogen ärztlich vermerkt: „Fehlende Indikation: lebensverlängernde Behandlungen sind sinnlos geworden, da nicht mehr erfolgversprechend bzw. ohne Nutzen für Patienten.“
Als der Notarzt eintrifft, ist er über die fehlenden Rettungsbemühungen sehr verärgert. Er macht der Ordensschwester schwere Vorwürfe aufgrund der fehlenden Rettungsbemühungen im Sinne einer Todesursächlichkeit. Er attestiert eine nicht natürliche Todesart und informiert die Polizei. Für eine Rücksprache mit dem später eintreffenden Palliativmediziner steht er telefonisch nicht zur Verfügung.
Problem Reanimation
Beim Auffinden eines leblosen Menschen sehen aktuelle Stellungnahmen eine unmittelbare Verpflichtung zur Durchführung von Reanimationsmaßnahmen vor – insbesondere von Rettungsdienstmitarbeitern (1). Selbst viele Notärzte fühlen sich verpflichtet, stets unmittelbar Reanimationsmaßnahmen einzuleiten. Getragen wird dies von Empfehlungen, eine Reanimation nur bei eindeutiger Aussichtslosigkeit zu unterlassen. Angegeben werden hier lediglich drastische Zustände wie Dekapitation, vollständige oder teilweise Durchtrennung des Thorax oder Abdomens oder sichere Todeszeichen wie Leichenflecken oder -starre (2).
Die Folge ist aktuell, dass die Reanimation bei nahezu allen Patienten die Regel geworden ist (3). Dementsprechend wurde dieses Jahr in der Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Notärzte postuliert, nur der Notarzt dürfe über Abbruch oder Nichtaufnahme einer Wiederbelebung entscheiden. Eine Stellungnahme der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer sorgt jetzt endlich für eine andersartige Klarstellung: Der Patientenwille gilt auch für medizinisches Assistenzpersonal (4). Das Patientenverfügungsgesetz (§ 1901a BGB) hat bereits 2009 den Patientenwillen als Grenze jeder medizinischen Behandlung bestätigt. Treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung oder die durch Zeugen vorgetragenen Behandlungswünsche des Patienten auf eine gegebene Behandlungssituation zu, so muss danach gehandelt werden.
Pragmatisch sollte gelten:
- Der Nothelfer ist nicht verpflichtet, im Notfall eine lange Patientenverfügung zu studieren oder Behandlungswünsche zu erheben. Lebensrettung hat Priorität, im Zweifel ist also mit der Wiederbelebung zu beginnen.
- Dem Nothelfer ist es aber auch nicht verboten, in einer Situation einer erkennbaren natürlichen Sterbesituation nach schwerer Krankheit einen Willen des Patienten, etwa durch Befragen von Angehörigen, zu ermitteln. Dabei darf der Nothelfer grundsätzlich auf die Richtigkeit der Angaben vertrauen.
Der Nothelfer ist folglich weder verpflichtet noch berechtigt, die Gültigkeit einer vorliegenden Patientenverfügung oder der Behandlungswünsche ohne gegebenen Anlass infrage zu stellen.
Die Alarmierung des Rettungsdienstes darf nicht als Widerruf einer Patientenverfügung gewertet werden, wie dies immer wieder kolportiert wird. Teilweise kursieren Ratschläge in der Art: „Wer nicht gerettet werden möchte, soll eben nicht den Notarzt rufen“. Dies ist völlig inakzeptabel, denn einerseits stammt der Notruf oftmals nicht vom Patienten selbst, andererseits handelt es sich zumeist schlicht um einen Hilferuf in verzweifelter Situation. Denn „Schnappatmung“ wird von vielen Laien als leidvoll mitempfunden, auch „Rasselatmung“ wird nicht selten mit schlimmster Erstickungsnot verwechselt. Der (Not-)Arzt ist berufsrechtlich in der offensichtlichen Sterbephase ohnehin nicht zur Lebensrettung verpflichtet, sondern zur Leidenslinderung (5). Denn in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zu den ärztlichen Pflichten bei Sterbenden heißt es: „Maßnahmen, die den Todeseintritt nur verzögern, sollen unterlassen oder beendet werden.“
Gesamtprognose
70 – 98% aller Reanimationen verlaufen ohne Erfolg (1). Etwa 5 – 10% der reanimierten Patienten werden nach längerer stationärer Behandlung lebend entlassen, ein Großteil von ihnen mit mehr oder weniger ausgeprägter geistiger Schwerbehinderung. Die Leitlinie 2018 der Deutschen Gesellschaft für Neurologie beschreibt die Prognose dieser „hypoxischen Enzephalopathie“ als sehr schlecht und mahnt frühzeitige Therapiezielgespräche mit der Familie an. Zustände ausbleibender Besserung, aber auch Patienten mit Multimorbidität oder Demenz sieht die Leitlinie kritisch. „Wenn ein Leidenszustand lediglich verlängert werden kann, ohne dass Aussicht auf prognostische Besserung und Förderung des Wohlergehens besteht, kann dafür [Lebensverlängerung] keine Indikation bestehen.“ Die Leitlinie endet mit der Klarstellung: „Fehlt es an der Indikation oder am Patientenwillen als Legitimation einer lebensverlängernden Behandlung, so darf diese nicht durchgeführt werden. Ist sie bereits begonnen worden, so muss sie beendet werden.“
Die Prognose ist bei Patienten mit defibrillierbarem Rhythmus, bei jungen Patienten, bei beobachtetem Kreislaufstillstand und bei Laienreanimation besser. Leider wird ein Großteil deutscher Patienten außerhalb dieser günstigen Konstellation wiederbelebt.
Diesen Empfehlungen widersprechend steigen in Deutschland die Zahlen chronisch kritisch Kranker dramatisch. Gab es 2003 in ganz Deutschland etwa 500 Menschen, die in ihrer Häuslichkeit intensivversorgt wurden, gehen aktuelle Hochrechnungen davon aus, dass es mittlerweile zwischen 40.000 bis 45.000 Betroffene sind (6). Eine große Gruppe sind die „primär erfolgreich Reanimierten“.
Aktuell ist belegt, dass Lebensqualität und Mobilität trotz Maximalversorgung schlecht sind. Von den wenigen Patienten, die überhaupt noch befragt werden können (z.B. Patienten mit COPD), geben 43% an, die Entscheidung zur Langzeitbeatmung zu bereuen, wohlwissend, dass dies ihren Tod bedeuten würde (7).
Prognose nach erstem EKG
Die Prognose ist bei Patienten mit defibrillierbarem Rhythmus, bei jungen Patienten, bei beobachtetem Kreislaufstillstand und bei Laienreanimation besser. Leider wird ein Großteil deutscher Patienten außerhalb dieser günstigen Konstellation wiederbelebt. Das Durchschnittsalter wiederbelebter Patienten liegt nach der jüngsten Auswertung des GRC bei 72,4 Jahren, der Anteil nicht defibrillierbarer Rhythmen bei 75%, Laienreanimation findet zumeist nicht statt (8).
Besonders in Pflegeheimen ist die Erfolgsrate von Wiederbelebungsversuchen schlecht. Von 2.575 in einem Pflegeheim wiederbelebten Patienten überlebten lediglich 57 (2,2%), davon kein einziger (!) ohne anschließende schwere neurologische Störungen (9). Selbst die bei anderen Gruppen in Zukunft zu erwartenden Verbesserungen durch die therapeutische Hypothermie erscheinen hier vernachlässigbar, sind doch die Daten zur Hypothermiebehandlung bei nicht defibrillierbarem Rhythmus enttäuschend (10).
Die Trennlinie zwischen guten und schlechten neurologischen Resultaten ermittelten die Autoren einer großen US-Untersuchung jenseits der Altersgruppe 60 – 64 Jahre, darüber sanken die Chancen auf gesunde Entlassung dramatisch (11). Besonders schlechte Chancen hatte die Mehrzahl der Patienten mit nicht defibrillierbarem Rhythmus (77%): 75% sterben, und von den Überlebenden haben 88% mehr oder weniger lange Phasen eines meist schwerstgradigen neurologischen Schadens. Nur 2,9% verließen die Klinik laufend.
Gerade bei Patienten über 75 Jahren erfolgen die Bemühungen bei der überwiegenden Mehrheit gegen den Willen bei minimalen Rettungschancen.
Befragt man ältere Menschen (> 75 Jahre), ob sie einem lebensrettenden Eingriff zustimmen würden, für den ein hohes Risiko für bleibende geistige Störungen besteht, antworten 91% von ihnen sinngemäß: „Lieber tot als schwerbehindert dahinvegetieren.“ (12) In Zahlen ausgedrückt: Auf 382 Menschen mit einem nicht defibrillierbaren Kreislaufstillstand wird nur ein Mensch seinem Wunsch entsprechend behandelt und kehrt in sein altes Leben zurück. 287 sterben nach Aufgabe der Wiederbelebungsbemühungen. 84 überleben mehr oder weniger lange mit schwersten geistigen Störungen zumeist im Koma, die meisten von ihnen nach einer Behandlung gegen ihren Willen. 10 weitere überleben nach einer ihrem Willen widersprechenden Behandlung.
So erscheint es doch völlig absurd zu fordern, Reanimationsmaßnahmen wären eine grundsätzliche Pflicht, wenn sichere Todeszeichen wie Leichenstarre oder Dekapitation fehlen. Gerade bei Patienten über 75 Jahren erfolgen die Bemühungen bei der überwiegenden Mehrheit gegen den Willen bei minimalen Rettungschancen. Und der Großteil der so Behandelten muss lange Intensivmedizin erdulden. Intensivbehandlung ist leidvoll, häufig sind Schmerzen, Schlaflosigkeit, diverse Sonden, Lärmbelastung, gestörter Tag-Nacht-Rhythmus, fehlende Selbstkontrolle und sogar Fixierung ein Teil davon (13). Überlebende haben im Anschluss erschreckend häufig ein posttraumatisches Stresssyndrom, das ansonsten eher von Kriegs- und Terroropfern bekannt ist (14). Etwa die Hälfte der Überlebenden hat auch noch nach Jahren eine psychiatrisch diagnostizierte Angst- oder Depressionserkrankung (15). So sagen Intensivmediziner, es gibt „Zustände schlimmer als der Tod.“ (16) Pflegepersonal und Ärzte empfinden eine enorme Gewissensnot. Es kommt zu Zweifeln an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns. So gaben 91% der Befragten in einer Untersuchung an, Übertherapie erlebt zu haben. Diese ging mit einem fast um den Faktor vier erhöhten Risiko für Burnout (17, 18) und einer siebenfach erhöhten Kündigungsbereitschaft (19) einher. Wir können nicht über Personalmangel klagen und andererseits Arbeitsbedingungen schaffen, die das Personal krank machen und kündigen lassen.
Zusammengefasst gilt: Darf man für die minimalen Rettungschancen eines Menschen Hunderte andere gegen ihren Willen teils jahrelang leidvoll behandeln?
Die rechtliche Lage
Es stellt sich folgende rechtliche „Gretchenfrage“: Haben Notfallsanitäter ausreichend Rechtssicherheit, wenn sie Wiederbelebungsmaßnahmen nach sorgfältiger Prüfung unterlassen/beenden bzw. dürfen sie derartige Maßnahmen überhaupt unterlassen/beenden? Die Antwort lautet ganz klar: Jein! Jeder Eingriff ist nur legitim, wenn Indikation und Patientenwille vorliegen. Der Wille ist nach der Klarstellung der Bundesärztekammer sowohl für Notarzt als auch für Notfallsanitäter bindend.
Zur Stellung der Indikation, die traditionell dem Arzt vorbehalten war, bedarf es einer längeren Diskussion. Mit dem am 1. Januar 2014 in Kraft getretenen Notfallsanitätergesetz (NotSanG) ist die „Notkompetenz“ des Notfallsanitäters gegenüber der bisherigen Rechtslage nach dem Rettungsassistentengesetz (RettAssG) erheblich erweitert worden. Die Situationen, in denen die Notkompetenz des Rettungsassistenten zum Tragen kommt, sind in der Stellungnahme der Bundesärztekammer zur Notkompetenz von Rettungsassistenten und zur Delegation ärztlicher Leistungen im Rettungsdienst vom 2. November 1992, S. 2 erstmals wie folgt ausgelegt worden: „Situationen (…), in denen er [der Rettungsassistent] nach eigener Entscheidung, ohne ärztliche Delegation und Weisung und damit in voller eigener Verantwortung überbrückende Maßnahmen zur Lebenserhaltung und Abwendung schwerer gesundheitlicher Störungen durchführen muß, die ihrer Art nach ärztliche Maßnahmen sind (Notkompetenz).“
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Stellungnahmen der BÄK keine Gesetzesqualität besitzen, folglich rechtlich unverbindlich sind. Gerichte werten diese Stellungnahmen als antizipierte Sachverständigengutachten mit der Folge, dass den Inhalten/Empfehlungen dennoch ein hoher Aussagewert zukommt.
Angesichts der Stärkung der Notkompetenz der Notfallsanitäter durch das NotSanG dürften die Stellungnahmen der Bundesärztekammer zur Notkompetenz von Rettungsassistenten und zur Delegation ärztlicher Leistungen im Rettungsdienst überholt sein.
§ 4 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c NotSanG sieht nunmehr die eigenständige Durchführung heilkundlicher Maßnahmen nach Delegation durch den zuständigen Ärztlichen Leiter Rettungsdienst vor. Hiermit wird der sogenannte Arztvorbehalt durchbrochen, der die Ausübung von Heilkunde ausschließlich dem Arzt zuweist. Wenn im Rahmen ärztlich delegierter Tätigkeiten der Notfallsanitäter selbstständig Heilkunde ausüben darf, so impliziert dies, dass er zuvorderst die Indikation der ärztlich delegierten Maßnahmen zu prüfen hat.
Ein Notfallsanitäter, der nach individueller Delegation durch den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst eigenständig heilkundliche Maßnahmen im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c NotSanG durchzuführen hat, muss demnach auch in den oben gezeigten Fällen prüfen, ob jeweils eine Reanimationsmaßnahme indiziert ist. Das Ergebnis der Prüfung könnte dann sein, dass nach einer „Schaden-Nutzen-Abwägung“ eine Reanimation für den Patienten ohne erkennbaren Nutzen im Verhältnis zum mit der Reanimation erlittenen Schaden bliebe. Erst wenn nach einer Schaden-Nutzen-Abwägung im Rahmen der Indikationsstellung vom handelnden Notfallsanitäter eine Reanimationspflichtigkeit bejaht wird, hat er in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob dieser heilkundliche Eingriff vom Patientenwillen gedeckt ist und hierfür eine zumindest mutmaßliche Einwilligung vorliegt. Sprechen deutliche Formulierungen in einer Patientenverfügung gegen die Durchführung einer Reanimationsmaßnahme oder tragen bevollmächtigte Angehörige dies übereinstimmend vor, so hat er die Reanimation zu unterlassen, andernfalls würde ihm eventuell eine Rechtsverfolgung wegen Körperverletzung gemäß § 223 StGB drohen. Insofern gilt für den mit Notkompetenz ausgestatteten Notfallsanitäter nichts anderes als für einen Notarzt.
Angesichts der Stärkung der Notkompetenz der Notfallsanitäter durch das NotSanG dürften die Stellungnahmen der Bundesärztekammer zur Notkompetenz von Rettungsassistenten und zur Delegation ärztlicher Leistungen im Rettungsdienst überholt sein. Vor dem Hintergrund, dass eine weitere Überarbeitung des NotSanG ansteht, insbesondere mit dem Ziel, die Rechtssicherheit der Notfallsanitäter bei der Ausübung ärztlicher Tätigkeiten zu stärken, wird zu diskutieren sein, wie ein Verzicht eines Notfallsanitäters auf Wiederbelebungsmaßnahmen zu bewerten ist. Zweifelhaft dürfte jedoch sein, ob Gerichte der Bewertung des Gesundheitsministers Spahn, „für jede Notsituation wird es am Ende nicht ganz ohne Ermessen gehen – selbst wenn wir das Gesetz ändern“, die er in einer Rede anlässlich seines Besuchs beim DRK in Baden-Württemberg am 29. März 2019 äußerte, folgen werden. Denn in der vielbeachteten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 2. April 2019 (Az.: VI ZR 13/18) ist dem „Weiterleben als Schaden“ zumindest eine Absage erteilt worden. Sanitäter, die eine Wiederbelebung bei einer demenzbetroffenen Patientin nach 14-minütig fehlender Laienreanimation und Asystolie in Abstimmung mit der Tochter unterließen, wurden angeklagt, aber richtigerweise freigesprochen (20). In einer älteren Verwaltungsgerichtsentscheidung dagegen gab es in vergleichbarer Situation Rechtsfolgen. Folglich bestehen – je nach Einzelfall – nicht unerhebliche Rechtsrisiken für den unterlassenden Notfallsanitäter, daher wurde in dieser Zeitschrift aus rechtlicher Sicht von Reanimationsunterlassung bislang abgeraten (21). Umso wichtiger scheint – gerade auch im ambulanten Bereich – die frühzeitige Einbeziehung des Hausarztes des Patienten oder des ihn betreuenden Palliative-Care-Teams mit Blick auf die Etablierung eines „Advanced Care Planning“ (ACP). Denn nur so kann die rechtssichere Vermeidung sinnloser Maßnahmen zur Wiederbelebung von Palliativpatienten gewährleistet werden. Vor diesem Hintergrund haben inzwischen auch zahlreiche Kliniken durch ihre Ethikkomitees begrüßenswerte „Empfehlungen zum Verzicht auf Wiederbelebung“ erlassen.
Fazit
Uns ist bewusst, dass die Entscheidung zur Reanimation im Sinne des Zitats des Bundesgesundheitsministers Spahn schwierig bleibt. Sie lässt sich sicherlich nicht durch strikte Dienstanweisungen regeln. Pragmatisch sollte man in der Situation zumindest versuchen, über nahe Angehörige Behandlungswünsche zu erfragen: „Wenn wir jetzt versuchen wiederzubeleben, bleibt ihr Mann mit über 90%iger Wahrscheinlichkeit ein Schwerstpflegefall – was würde er uns jetzt auftragen, wenn er das wüsste?“
Die Entscheidung zur Nichtreanimation bei eindeutig vorliegenden schlechten Prognosefaktoren (hohes Alter, nicht defibrillierbarer Rhythmus, fehlende Laienreanimation) erscheint ethisch geboten zu sein. In der führenden internationalen Wiederbelebungszeitschrift wurden vergleichbare Kriterien empfohlen (22).
Mit diesem Beitrag möchten wir die dringend notwendige Diskussion anstoßen, denn aktuell gibt es Bestrebungen, in Reanimationssituationen auch noch extrakorporale Verfahren (ECMO) einzusetzen. Die weitere Verbreitung dieser Möglichkeiten dürfte die Probleme nochmals zuspitzen. Denn extrakorporale Verfahren retten nur Herz – nicht Hirn.
Autoren:
Dr. med. Matthias Thöns
Zweitmeinung-Intensiv GbR
Wiesenstraße 14
58452 Witten
thoens(at)sapv.de
Svenja Schürrle
Rettungsdienst EN-Kreis
Zweitmeinung-Intensiv GbR
Wiesenstraße 14
58452 Witten
sschuerr(at)outlook.de
Henrike Korn
Rechtsanwältin
Kanzlei für Medizinrecht
Am Kaiserkai 69
20457 Hamburg
info@khcl.de
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