Die Bertelsmann-Stiftung hat zusammen mit der Björn-Steiger-Stiftung bei der Universität Maastricht ein Gutachten in Auftrag gegeben, um eine Bestandsaufnahme zum deutschen System aus Rettungsdiensten, Notfallpraxen und Krankenhaus-Notaufnahmen zu erhalten. Unter dem Titel „Notfallversorgung & Rettungsdienst in Deutschland: Partikularismus vs. Systemdenken“ werden auf 168 Seiten Mängel in den Abläufen, der Organisation und der Zusammenarbeit benannt, aber auch denkbare Lösungsansätze aufgezeigt.
In der von Prof. Dr. Thomas Krafft, Maresa Neuerer, Simone Böbel und Dr. Melanie Reuter-Oppermann erstellten die Studie wird die Versorgung in einer gesundheitlichen Notfallsituation aus Patientinnen- und Patientensicht ganzheitlich betrachtet. Die verschiedenen Reform- und Handlungsvorschläge der Notfallsituation werden zusammengefasst sowie divergierende Partikularinteressen kontrastiert und aufgezeigt. Es werden verschiedene Good- und Best-Practice-Beispiele unter Einbeziehung der internationalen Perspektive diskutiert und Anforderungen an ein Zielbild des Rettungswesens als Teil des Gesundheits-, Public-Health- und Gefahrenabwehrsystems skizziert. Insbesondere soll auch die Frage geklärt werden, welche Rolle der Rettungsdienst zukünftig erfüllen soll und kann. Den Abschluss bilden zehn Hauptforderungen zur Reformierung der Notfallversorgung und des Rettungsdiensts:
- Das Zielbild für Rettungsdienst und Notfallversorgung ist zu aktualisieren und sollte bundesweit einheitlich und verbindlich als Orientierungsrahmen für die Umsetzung durch die Länder gelten.
- Für den Teilbereich der Koordinierung und Steuerung der medizinischen Notfallversorgung durch die Integrierten Leitstellen ist es erforderlich, diese als Gesundheitsleitstellen und (virtuellen) Single Point of Contact weiterzuentwickeln und konsequent auszubauen.
- Die Abfrage des Notrufs 112 sollte bundesweit nach einheitlichen Kriterien und auf der Grundlage evidenzbasierter wissenschaftlicher Konzepte auf standardisierte und strukturierte Notrufabfragesysteme umgestellt werden.
- Bundesweit sollte ein flächendeckendes (interoperables) telemedizinisch-notärztliches (TNA)-System als integraler Bestandteil der rettungsdienstlichen Versorgung aufgebaut werden. TNA-Systeme sollen dabei die gesamte fachliche Bandbreite (Low-Code- bis High-Priority-Einsätze) abdecken können, die im Rahmen der Aufgaben des Rettungsdienstes für Gespräche zwischen (I) Ärztin/Arzt – Ärztin/Arzt, (II) nicht-ärztlichem medizinischen Personal – Ärztin/Arzt und/oder (III) Patientin/Patient – Ärztin/Arzt erforderlich sind.
- Die sozialmedizinische und psychosoziale Reaktionskompetenz des Rettungssystems muss gestärkt werden, um eine adäquate und fachkompetente Systemantwort auf die täglichen Anforderungen an das Rettungswesen zu gewährleisten.
- Hybride Versorgungssysteme, die eine sektorenübergreifende Notfall- und Akutversorgung ermöglichen, sind flächendeckend einzuführen.
- Die rettungsdienstliche Planung und Steuerung erfordert einen Paradigmenwechsel von einer allgemeinen Hilfsfrist („response time to treatment“) zur Sicherstellung einer leitliniengerechten Versorgung („time to the right care, right time, and right place“).
- Der Rettungsdienst benötigt eine bundeseinheitliche Digitalisierungsoffensive, die auf ein einheitliches Finanzierungsprogramm gestützt wird. So kann eine umfassende und durchgängig kompatible funktionale digitale Vernetzung entlang des Patient Pathways zwischen den Akteuren der ambulanten und stationären (Notfall-)Versorgung ermöglicht werden.
- Bundesweit wird eine einheitliche Qualitätssicherung in der Notfallversorgung sowie die Harmonisierung von evidenzbasierten Mindeststandards im Rettungswesen (z.B. Behandlungsstandards/SOP, Hilfsfristen, Anforderungen an die Versorgungsqualität, berufliche Qualifikationen & Handlungskompetenzen) benötigt, um eine einheitliche qualitativ hochwertige Notfallversorgung standort- und zeitunabhängig sicherzustellen.
- Die Bereiche Public Health, Public Safety und Health Care müssen aktiv vernetzt werden und komplementäre Aufgabenbereiche erfüllen, um Synergieeffekte nutzen zu können und die Systemresilienz zu stärken.
Die Studie kann hier heruntergeladen werden.